Als junge Frau wurde Marianne Siebenmann (53) vergewaltigt; vor drei Jahren erlitt sie ein Burn-out. «Ohne meine Katzen wäre ich heute nicht mehr auf dieser Welt», sagt sie.
Aufgezeichnet von Andreas Krebs
Sissy und Scotty heissen meine zwei Lieblinge. Sie sind wirklich einzigartig. Es sind Geschwister, Norwegische Waldkatzen, sechs Jahre alt. Mit zwölf Wochen habe ich sie bei einer befreundeten Züchterin abgeholt.
Es hätten keine Norweger sein müssen, ich wollte einfach Büsi. Es mussten aber Wohnungskatzen sein, da ich früher an sehr stark befahrenen Strassen gewohnt habe. Heute habe ich eine Eigentumswohnung im Neubaugebiet von Emmenbrücke. Ich hätte auch hier Angst, die Katzen rauszulassen, weil auf einer Seite die Hauptstrasse verläuft. Damals hat es im Tierheim keine Hauskatzen gegeben. So bin ich durch meine Bekannte auf die Norweger gekommen. Norwegische Waldkatzen haben einen tollen Charakter, sie sind sehr lieb und anhänglich. Und sie sind sehr schlau – sie lernen gut, fast so wie Hunde.
2012 habe ich die Kündigung erhalten. Ich habe für eine grosse Krankenkasse im Callcenter gearbeitet. Die Firma hat mit ihren alten Mitarbeitern «aufgeräumt», weil junge Arbeitnehmer weniger kosten und angeblich mehr Leistung erbringen. Ich habe dann eine neue Stelle angetreten. Die Chefin war ein rabiater Mensch. Jeden Tag hat sie mich klein gemacht. Ich bin zugrunde gegangen; alles in mir hat sich gesträubt. Da habe ich gemerkt, dass ich handeln muss. Ich musste kündigen, sonst hätte ich meine Gesundheit ruiniert. Lieber arbeitslos als so eine Stelle, habe ich gedacht.
Dann war ich ein halbes Jahr lang arbeitslos. Bei meinen Bewerbungen war immer wieder das Alter Thema – schon 50, dann lieber nicht. In diesem Sinne wurde ich abgestempelt, wieder und wieder. Plötzlich gehörst du zum alten Eisen. Das ist ein Scheissgefühl. Du kommst dir vor wie Abfall, wie der letzte Dreck. Da ist es nicht mehr weit bis zum Burn-out, vor allem wenn du sonst schon in einem Loch steckst.
Ich hatte Kopf- und Ohrenschmerzen, war erschöpft. Die Schmerzen waren da im Ohr, aber es waren keine eigentlichen Ohrenschmerzen. Die Schmerzen waren psychisch bedingt. Ich hatte genug gehört, genug gesehen, genug erlebt, ich wollte nicht mehr. Der Hausarzt diagnostizierte dann das Burn-out. Ich hätte Psychopharmaka nehmen sollen. Als gelernte Arztgehilfin und medizinische Therapeutin bin ich jedoch strikt gegen solche Medikamente mit all ihren Nebenwirkungen. Antibiotika, wenn es sein muss, klar. Aber Psychopharmaka? Sicher nicht! Stattdessen habe ich mich der Naturheilkunde zugewendet, habe Akupunktur gemacht, mit Chinesischer Medizin und Bachblüten gearbeitet. Die besten Therapeuten aber waren meine zwei Büsi.
Ich habe rasch gemerkt, dass Sissy und Scotty die Therapie aufnehmen, und ich habe mich voll auf sie verlassen. Sissy hat oft auf meinem Schoss gesessen und mir die Tränen vom Gesicht geleckt. Manchmal musste sie sich wegen der salzigen Tränen schütteln, trotzdem hat sie weitergemacht. Bis meine Tränen versiegten. Und Scotty hat sich währenddessen auf meine Füsse gelegt oder sich ganz eng an mich geschmiegt und so seine Wärme auf mich übertragen. Er ist erst von mir gewichen, wenn es mir wieder besser ging.
Scotty ist mein Shiatsu-Therapeut. Wenn es mir nicht gut geht, lasse ich ihn auf mir herumlaufen. So stimuliert er gewisse Punkte, wie bei der Akupressur, und ich kann mich schön entspannen. Meine beiden Lieblinge merken immer sofort, wenn es mir nicht gut geht. Dann spielen sie miteinander, hüpfen herum und schmusen mit mir. So ist bei mir die Lebensfreude wieder zurückgekommen. Mit ihrer Liebe und Wärme haben sie mir vermittelt, dass ich nicht alleine bin.
Ohne meine beiden Lieblinge wäre ich nicht mehr auf dieser Welt. Dann hätte ich mich gefragt, für was bin ich noch da? Zu alt für einen Job! Das ist hart. Ich habe zwar eine schöne Wohnung, aber das ist es nicht, was mich gehalten hat. Und einen Partner habe ich nicht. Vielleicht habe ich den Zug verpasst, als ich neben dem Hundert-Prozent-Job auch noch meine Mutter pflegte. Vielleicht auch, weil ich mit 22 eine Vergewaltigung erlebt habe. Ich baute Mauern gegen männliche Personen auf, auch wenn man das nicht tun sollte. Seither habe ich bei Tieren mehr Geborgenheit und Antworten gefunden als bei Menschen.
Mittlerweile habe ich glücklicherweise einen neuen Job. Bei einem Marktforschungsinstitut mache ich im Auftrag des Bundes die Haushaltsbudgeterhebung. Die Arbeit ist spannend und ich habe nette Arbeitskolleginnen. Zudem singe ich seit zwei Jahren im Kirchenchor. Dort habe ich gelernt, richtig zu atmen. Das hat viele Blockaden gelöst und hilft mir beim Verarbeiten des Burn-outs. Am 11. und 12. September führen wir in Gerliswil das Musical «Zmitts is Härz» auf, zusammen mit Fabienne Louves. Darauf freue ich mich schon sehr.
Und ich freue mich jeden Abend auf meine beiden Lieblinge. Wenn ich nach Hause komme, erzählen sie mir immer, was sie den ganzen Tag erlebt haben. Alles verstehe ich zwar nicht, aber es ist herzig, wie sie mich miauend begrüssen. Sissy und Scotty sind meine Engel auf Samtpfoten. Sie geben mir viel Liebe. Mit ihnen kann ich lachen und schmusen. Und vor allem haben sie mich gelehrt, wieder an mich zu glauben. Dank ihnen kann ich heute wieder die schönen Dinge des Lebens geniessen.